Vieles deutet auf vorgezogene Wahlen hin. Am 4. Dezember wissen wir mehr. Warum der Ausgang der Hofburg-Wahl die kommende Nationalratswahl beeinflusst?
Oktober 2016: Der Reformstau ist unübersehbar, fast schon unüberschaubar. In diesem Monat, so die große und altbekannte Ankündigung der beiden Koalitionspartner, sollen viele Reformen in die Wege geleitet werden. Doch es gibt berechtigte Zweifel, weil in den letzten Wochen und Monaten einfach zu viel debattiert wurde, rein gar nichts spricht dafür, dass diese Koalitionsregierung noch liefern wird. So gesehen befindet sich die Alpenrepublik bereits seit sehr langer Zeit in einem lähmenden Ausnahmezustand, zumindest die Frage, ab wann ein Notstand tatsächlich ein Notstand ist oder sein könnte, hat sich also fast schon erübrigt.
Der Oktober wird darlegen, dass es keinen gemeinsamen rot-schwarzen Willen mehr gibt, selbst wenn er irgendwann einmal in einem Koalitionspakt festgeschrieben wurde und der groß angekündigte „New Deal“ die Wende zur Reformpolitik einleiten hätte sollen. Die Debatte rund um den Mindestlohn für Asylwerber, um die Mindestsicherung, um die Unterschriftsreife des CETA-Abkommens, der leidige Diskurs über eine Bildungs- oder Pensionsreform, ganz zu schweigen von der unendlichen Geschichte einer Verwaltungsreform – all das sind schlechte Vorzeichen für den proklamierten Herbst der Reformen.
Vielmehr werden in den nächsten Wochen die politischen Fronten abgesteckt werden, wird jede der geschrumpften Großparteien darauf bedacht sein, ihr Profil zu schärfen, darzulegen, was mit ihr machbar ist und vor allem wofür sie nun wirklich nicht mehr zu haben ist. Das Ergebnis sind zwei unterschiedlich Reformkonzepte, zwei Grundlagen für den Wahlkampf. Sie werden verdeutlichen, wie weit die Koalitionsparteien mittlerweile auseinander liegen. Karl Amon, der neue ÖVP-Generalsekretär, wird uns das unmissverständlich darlegen, auf schnelle Neuwahlen drängen während Lopatka im Hintergrund zustimmend nickt. Ist das Amons angekündigte Überraschung, die er noch vorbereiten muss? Wahlen im März oder April 2017.
Voraussetzung ist ein Sieg von Norbert Hofer bei der Stichwahl zum Bundespräsidenten. Denn das schwer nachvollziehbare VP-Kalkül geht davon aus, dass die Hälfte der Hofer-Wähler sogenannte Leihwähler von SPÖ und ÖVP sind. Sie würden bei einer rasch folgenden Nationalratswahl eher den roten Kern oder den schwarzen Kurz wählen, um ein politisches Gegenstück zum blauen Präsidenten Hofer zu schaffen. Ist der Wunsch nach politischer Ausgewogenheit wirklich größer als die Wut der Wutbürger, die HC-Strache wählen, nur damit sich irgendetwas in diesem Land ändert?
Ein Spitzenkandidat Kurz hofft bzw. träumt ähnlich wie Kanzler Kern von 30 Prozent. Dass Kurz die schlechtere Ausgangsposition hat, dafür aber größeres Vertrauen genießt, ist unbestritten. Die Hiobsbotschaft ist, dass Kurz nur als Sieger hervorgehen kann, wenn er der Strache-FPÖ zehn Prozent abknöpft. Der Wahlkampf wird so zum Wettlauf um die rechten Antworten in der Asylfrage.
Kurz könnte vielleicht sogar ein schwarz-grün-rosa Koalitionsmodell mit Irmgard Griess ins Auge fassen. Doch das klingt genauso unwahrscheinlich wie die Variante, dass sich Strache zum Vizekanzler unter Kurz krönen lässt oder es zu einer (rot-schwarzen bzw. schwarz-roten) „Neu“auflage der alten Koalition kommt, für die es kaum noch eine Mehrheit gibt.
Wenn den Österreichern die politische Ausgewogenheit wirklich so am Herzen liegt wie in den Parteizentralen vermutet, dann ist HC-Strache der Wahlsieg nicht mehr zu nehmen, sollte Alexander van der Bellen im nächsten Anlauf tatsächlich in die Hofburg einziehen. Kurz würde kurzerhand nicht als Spitzenkandidat zur Verfügung stehen, weil er sich unter diesen Voraussetzungen auf kein Duell mit Kern oder Strache einlässt: Aus dem Hofer-Leihwähler wird dann ein auf Ausgewogenheit bedachter Strache-Wähler, vielleicht sogar ein Leih-Wutbürger? Die Meinungsforscher verdienen größere Ernsthaftigkeit und keine schrägen Interpretationen! Egal, was sie prognostizieren.
Sie gehen auch davon aus, dass Blau-Rot nur dann einen Pakt schnüren können, wenn sich das Duo Niessl-Doskozil in der Bundes-SPÖ mehr Gehör verschaffen kann, ohne dass die Parteibasis wegbricht und es zu einer Spaltung der Sozialdemokratie kommt. Ansonsten wird Kern auf der Oppositionsbank Platz nehmen und mit der Vranitzky-Doktrin wacheln, in der festgeschrieben steht, „dass die SPÖ nicht mit Parteien zusammenarbeitet, die gegen Menschen hetzt. Punkt!“ Mit wem die österreichische Sozialdemokratie, unter welchen Voraussetzungen, überhaupt noch koalieren kann und möchte, diese Kernfrage wird den Parteigenossen nicht vor der Wahl 2017 gestellt werden. Denn bis zum Wahltag ist demonstrative Einigkeit gefragt. Ähnlich wie in der Koalitionsregierung: Die beiden Partner warten nur noch auf den richtigen Zeitpunkt, um die Scheidung zu verkünden. Bis dahin regiert scheinbare reformfreudige eitle Wonne.