Julija Timoschenko befindet sich im Hungerstreik. Die Ex-Regierungschefin protestiert gegen ihre Haftbedingungen in der Ukraine. Angeblich ist sie auch ernsthaft krank. Sie soll in Berlin behandelt werden. Oder simuliert sie nur, um ausreisen zu können? Droht der Ukraine auch ein EM-Boykott?
500 Kilometer östlich von Kiew, kurz vor der russischen Grenze liegt Charkiw, die zweitgrößte Stadt der Ukraine. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg ist hier noch sehr lebendig: Der T-34 Panzer wurde hier hergestellt und in der Schlucht Drobizki JDarog, im Ostteil der Stadt, sind rund 16.000 Juden ermordet worden. Traurige Berühmtheit erlangten auch die beiden deutschen Kriegsgefangenenlager „149“ und „415“. Der deutsche Soldatenfriedhof in Charkiw ist erst vor zwölf Jahren von Bundespräsident Roman Herzog eingeweiht worden. Heuer werden hier drei Vorrundenspiele der Fußball Europameisterschaft stattfinden. So ist es zumindest geplant.
Am 30. Dezember 2011 ist wieder ein Gefangenentransport in Charkiw angekommen. In der Frauenhaftanstalt Katschanowka. Sie gilt auch als die größte Nähwerkstatt der Ukraine. Nach insgesamt 4 Stunden Fahrzeit wird ein Rollstuhl mit einer blonden Dame aus dem Gefangenentransporter herausgeschoben: Julija Timoschenko (51) wirkt angespannt und erschöpft. Sie trägt wieder ihren geflochtenen Haarkranz und klagt über Rückenschmerzen. Sie behauptet, nicht einmal gehen zu können. Hinter ihr liegen ein höchst umstrittener Prozess und ein Urteilsspruch, der politisch motiviert sein könnte. Schließlich war Timoschenko die Heldin der orangefarbenen Revolution (2004) gemeinsam mit Wiktor Juschtschenko, der vergiftet und in Wien behandelt wurde. Er überlebte. Der Volksaufstand der „Orangen“ versperrte ihrem Rivalen Wiktor Janukowitsch den Weg an die Macht. Präsident Wiktor Janukowitsch, der Timoschenko 2010 in der Stichwahl um das Präsidentenamt nur knapp geschlagen hatte, übt so (vielleicht) späte Rache.
Timoschenko wurde im Oktober letzten Jahres zu sieben Jahren Haft verurteilt. Richter Rodion Kirejew entsprach somit dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Julija Timoschenko habe während ihrer Amtszeit als Ministerpräsidentin ihre „Machtbefugnisse klar überschritten“ und ihren Posten zu „kriminellen Zwecken missbraucht“. Durch die abgeschlossenen Gasverträge mit Russland sei der Ukraine ein Schaden von umgerechnet 137 Millionen Euro entstanden, heißt es in der Urteilsbegründung.
Julija Timoschenko wurde gleich nach ihrer Ankunft in der Frauenhaftanstalt Katschanowka in der Zelle Nummer 260 eingesperrt. Die Haftbedingungen werden von ihren Anwälten seither als „inhuman“ bezeichnet, vor allem deshalb, weil die Heizung nicht funktioniert. Die ukrainische Justizvollzugsbehörde ist bemüht, das Gegenteil zu beweisen: Mit Fotos aus der Gefängniszelle 260. Lokale Medien kommen sogar zu dem Schluss, dass es sich um eine „Nobel-Zelle im Stil eines Hotelzimmers handelt. Mit Flachbild-Fernseher, Klimaanlage und einem großzügigen Bett.
Von diesem Bett konnte Julija Timoschenko aber gar nicht mehr aufstehen. Ihr Gesundheitszustand hat sich seit ihrer Überstellung vor vier Monaten dramatisch verschlechtert. Obwohl es kein unabhängiges medizinisches Gutachten gibt, deutet vieles auf einen schweren Bandscheibenvorfall hin. Möglicherweise ist sogar das Rückenmark geschädigt. In einer Nacht und Nebel Aktion wurde die ehemalige Regierungschefin vorübergehend in ein nahegelegenes Krankenhaus gebracht. Gegen ihren Willen und – angeblich – auch mit Gewaltanwendung. Doch die ukrainische Staatsanwaltschaft dementiert und macht die beiden Mitgefangenen für die Blutergüsse der ehemaligen Regierungsch
efin verantwortlich. Denn vor ungefähr zehn Tagen wurde Timoschenko mit einer Geldfälscherin und einer Betrügerin zusammengelegt. Allerdings wird vermutet, dass es sich um zwei eingeschleuste Sicherheitskräfte handelt.
Vielleicht wurde sie im Krankenhaus vorübergehend auch zwangsernährt?
„Julija Timoschenko hat seit 20. April nichts mehr gegessen“, erklärte ihr Anwalt Sergej Vlasenko der russischen Nachrichtenagentur Interfax. „Mit ihrem Hungerstreik protestiert sie gegen die Haftbedingungen.“
Auch auf höchster politischer Ebene ist man besorgt um Julija Timoschenko: Deutschlands Bundespräsident Joachim Gauck sagt einen geplanten Ukrainebesuch kurzerhand ab, in Berliner Regierungskreisen wird laut über den Boykott der Fußballeuropameisterschaft nachgedacht. Und schon kommt Bewegung in die Causa Timoschenko. Schließlich möchte Präsident Wiktor Janukowitsch nicht alleine auf der Ehrentribüne im Fußballstadion sitzen. Anerkannte und angesehene EU-Politiker sollen ihn umgeben, wenn das wichtigste Fußballereignis des Jahres angepfiffen wird. Deswegen dauerte es auch nicht lange bis der stellvertretende Generalstaatsanwalt Rinat Kuzmin in einer Fernsehsendung verkündet:
„Wir diskutieren derzeit mit der deutschen Regierung, ob Timoschenko von deutschen Ärzten behandelt werden soll. Eine Versorgung in Berlin könnte Wirklichkeit werden.“
Dabei hatte die Staatsanwaltschaft noch vor wenigen Wochen behauptet, Timoschenko sei gesund. Es wurde damals mit einem Video argumentiert, das eine Frau zeigt, die sich unbehindert bewegt und sich sogar Stöckelschuhe anzieht. Erst als sie durch Lärm aufgeschreckt wird, springt sie ins Bett und simuliert Rückenschmerzen.
Julija Timoschenko ist auch im Westen nicht unumstritten. Selbst wenn sie tatsächlich ein Opfer politischer Rachejustiz ist oder sein sollte. Unbestätigten Gerüchten zur Folge soll sie in den 90-iger Jahren für den russischen Geheimdienst gearbeitet haben. In Russland war ein einschlägiges Ermittlungsverfahren gegen Timoschenko vor wenigen Jahren aufgrund der Verjährung eingestellt worden. Sie selbst gilt als steinreich, doch woher ihr Vermögen stammt, lässt sich nicht lückenlos recherchieren.
Iwan Derewjanko, der Chefermittler des ukrainischen Sicherheitsdienstes, hat im letzten Oktober sehr überzeugend dargelegt, dass der ukrainische Energiekonzern EESU (Edyni Enerhetytschni Systemy Ukrajiny) dem russischen Verteidigungsministerium 405 Millionen US-Dollar schuldet. Die Schulden waren in den 1990er Jahren gemacht worden, als Julija Timoschenko EESU-Chefin war. Bei der „Universal Trading and Investment Company“ in den USA ist die EESU ebenfalls verschuldet. Im November verklagte das amerikanische Unternehmen Timoschenko auf eine Zahlung von 18,3 Millionen Dollar.
Video: Julija Timoschenko in der Gefängniszelle No. 260