Der Norweger Anders Bering Breivik hat 77 Jugendliche erschossen. Laut den beiden Gerichtsgutachtern ist er „unzurechnungsfähig“. Norwegen steht erneut unter Schock. Entgeht der Massenmörder einer Gefängnisstrafe?
Es ist außergewöhnlich schwierig sich in die Lage von Eltern zu versetzen, deren Kind von einem Massenmörder regelrecht hingerichtet wurde. Genau genommen will man sich auch gar nicht in ihre Lage versetzen! Falls wir es trotzdem versuchen, so glaube ich, dass nach unaussprechlicher Trauer und Verzweiflung, Fassungslosigkeit und dem Gefühl einer unendlichen Leere, irgendwann auch Rachegedanken bei den Eltern aufkommen:
Dabei hoffen viele vielleicht, dass der Mörder in einem dunklen Keller dahinvegetiert. Natürlich bis an sein Lebensende. Unvorstellbare Qualen erleidet und irgendwann auch langsam dort verendet. Nur der Glaube an den Rechtsstaat verdrängt letztendlich solche mittelalterlichen Vorstellungen und Fantasiebilder. Die Hoffnung auf Rache wird von der Hoffnung auf Gerechtigkeit abgelöst: Man möchte den Verbrecher hinter Gittern sehen. Er soll einsitzen. Lebenslang. Da und dort wird mit Sicherheit auch die Todesstrafe diskutiert oder man stellt sich die grundsätzliche Frage, ob es für eine solche Tat überhaupt ein angemessenes Strafmaß geben kann? Wohin sich die Gedanken und Emotionen der betroffenen Familien in diesen Wochen und Monaten auch hinverirren, jede Vorstellung und jedes Gefühl ist berechtigt. Egal, ob es für uns Außenstehende nachvollziehbar ist oder nicht.
„Ihr werdet mir bald dankbar sein, dass ich Eure Kinder erschossen habe. Eure Lieben sind als Märtyrer gestorben, um das norwegische Volk vor der Bedrohung durch den Islam zu warnen. Einige sind gestorben, um die Zukunft für Tausende zu retten. Ich, Anders Behring Breivik, sehe als Einziger diese große Gefahr auf das Volk zukommen.“ erklärte der Massenmörder bei einem Haftprüfungstermin, bevor ihm der Richter das Wort entzog.
Immer deutlicher zeichnet sich ab, wie Breivik mit dem antiislamischen Gedankengut seinen Narzissmus, seine Selbstverliebtheit, gefüttert und sich gegen die reale Welt hermetisch abgeschirmt hat. So weit, dass er seine Morde tatsächlich am Ende als Wohltat für sein geliebtes Volk rechtfertigen konnte.
Womit alle Norweger vermutlich am wenigsten gerechnet haben, ist, dass die beiden Rechtspsychiater Torgeir Husby und Synne Sørheim zu dem Schluss kommen, Anders Bering Breivik leidet an „Paranoider Schizophrenie“. Mit ihrem Befund haben die beiden vor wenigen Tagen eine ganze Nation aufgeschreckt. Denn gemäß den beiden Rechtsgutachtern gilt der Massenmörder als „psychotisch“ und somit als unzurechnungsfähig. Ihr Ergebnis stützt sich auf 13 Einzelgespräche mit dem Inhaftierten. Gleichzeitig konnten sie auch auf das gesamte Material von 130 Stunden Polizeiverhör zurückgreifen.“Wir haben keine Zweifel gehabt“, sagte Husby, als er den Bericht der zuständigen Richterin übergab. Breivik habe die paranoide Schizophrenie über einen längeren Zeitraum aufgebaut. Als er am 22. Juli zuerst im Osloer Regierungsviertel eine Bombe zündete und danach auf der Insel Utøya 69 Menschen erschoss, sei er in einem psychotischen Zustand gewesen. Breivik hält sich selbst – laut norwegischen Medien – für vollkommen zurechnungsfähig.
Das Gutachten umfasst 230 Seiten. Stimmt das Gericht den beiden Psychiatern und ihrer Schlussfolgerung zu, kommt Breivik nicht ins Gefängnis, sondern auf unbestimmte Zeit in eine Psychiatrie mit einem Hochsicherheitsbereich für Straftäter. Die Einweisung muss alle drei Jahre überprüft werden.
„Paranoide Schizophrenie“ war die Schlagzeile fast aller norwegischen Tageszeitungen. Und im Handumdrehen stellt sich eine ganze Nation die Frage „Können wir damit leben?“ Denn irgendwo haben viele Menschen nun den Eindruck, Breivik wäre nun von seiner Schuld befreit. Oder: für seine Tat nicht wirklich zur Verantwortung zu ziehen. Er könnte behandelt, nicht bestraft werden. In einem online-Kommentar erklärt der Redakteur Anders Giæver: „Ich selber glaube nicht, dass ein psychisch kranker Mann tatsächlich mehrere Jahre lang einen solchen Anschlag planen könne. Dann hätte er wohl kaum ein solches Doppelleben führen und sein 1.500 Seiten dickes Manifest verfassen können.“Auch die ersten politischen Reaktionen klingen ungläubig und zornig. Die rechtspopulistische Fortschrittspartei forderte einen neuen Bericht zu Breiviks Psyche. „Das ist absolut unverständlich und überraschend, dass eine Person, die über mehrere Jahre eine solche Handlung geplant hat, als unzurechnungsfähig eingestuft wird“, erklärt ihr stellvertretender Vorsitzender Per Sandberg.
Ursprünglich hatte man damit gerechnet, dass Anders Bering Breivik wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht gestellt wird. Dabei könnte ein Paragraf des norwegischen Strafgesetzbuches zur Anwendung kommen, der unter anderem die Verfolgung von Menschen wegen ihrer politischen Überzeugung umfasst, berichtete die norwegische Zeitung „Aftenposten“ unter Berufung auf Staatsanwalt Christian Hatlo. Der Strafrahmen wäre dabei mit bis zu 30 Jahren Haft höher als bei den maximal 21 Jahren für den bisher von der Justiz verwandten Terror-Paragrafen. Die Verfügung war erst 2008 ins Strafgesetzbuch aufgenommen worden. Auch auf Mord steht in Norwegen eine Höchststrafe von 21 Jahren.
Nun aber besteht tatsächlich die Möglichkeit, dass Breivik aus der geschlossenen Einrichtung schon nach ein paar Jahren entlassen wird, wenn die Ärzte zu der Einsicht kommen, er sei geheilt und keine Gefahr für die Gesellschaft mehr. Könnte die offene, tolerante Gesellschaft am Ende so weit gehen, ihren größten Feind freizulassen? Zwar rechnet kaum jemand ernsthaft damit. Aber alleine dieser Gedankenansatz verrät die wachsende Angst in Norwegen, je näher der Prozess rückt. Prozessbeginn ist der 16. April 2012.