Vom Bitcoin bis zum E-Yen. Der Wettlauf um Kryptowährungen hat längst begonnen. In Krisenzeiten ist aber vor allem Stabilität gefragt. Können digitale Währungen künftig Gold oder Bargeld ersetzen?
„Lebenslange Haft ohne Chance auf vorzeitige Haftentlassung.“ Das am 29. Mai 2015 festgelegte Strafausmaß und mittlerweile rechtskräftige Urteil war eine eindeutige Botschaft: Das Betreiben krimineller Netzwerke im Internet hat Konsequenzen. Ross William Ulbricht, Dark-Net-Besuchern unter dem Pseudonym Dread Pirate Roberts bekannt, plädierte auf „nicht schuldig“. Er argumentierte, die Handelsplattform Silk Road lediglich aus libertärer Motivation des Anarchokapitalismus gegründet zu haben. Letztendlich waren es andere, die diese Online-Handelsplattform weitergeführt haben. Über Silk Road wurden Drogen und Waffen, gefälschte Dokumente und Bitcoins gehandelt.
1,2 Milliarden US-$ hat der Web-Drogenbasar umgesetzt, auf Ulbricht und seine Partner entfielen insgesamt 80 Millionen US-$ Provision. Silk Road stellte jedem Account ein Wallet mit mehreren Bitcoin-Adressen zur Verfügung. Mit Abschluss eines Kaufs wurde die entsprechende Summe direkt an den Händler überwiesen, eine Finalisierung durch den Käufer war nicht mehr notwendig.
FBI-Beamte in Zivilkleidung hatten Ross Ulbricht am 1. Oktober 2013 um 15.15 Uhr in einer öffentlichen Bibliothek von San Francisco verhaftet. Die US-Regierung beschlagnahmte Ulbrichts 144.000 Bitcoins. Bei einer Auktion des US Marschals Service im Jahr 2014 schlug Barry Silbert zu und erwarb angeblich 48.000 Bitcoins. Der Bitcoin stand damals bei 350.- US-$. Silbert zählte mit seinen Investments in Kryptounternehmen zu den ersten Großinvestoren in der neuartigen und innovativen Welt der Blockchain-Technologie.
Risikoverliebt spekuliert er bis zu heutigen Tag mit Kryptowährungen wie Bitcoin, Ethereum und Ripple. Alleine durch Kryptowährungen soll Silbert 400 bis 500 Millionen US-$ verdient haben. Glück und Erfahrung, Beharrlichkeit und Optimismus in Kombination mit einer sehr hohen Risikoaffinität, hat die großen Krypto-Millionäre des 21. Jahrhunderts hervorgebracht. Vom Bitcoin-Schöpfer Satoshi Nakamoto, der weitgehend nur unter seinem Pseudonym bekannt ist, bis hin zu Roger Ver alias „Bitcoin Jesus“, einer der ersten Bitcoin-Milliardäre, haben sie alle nicht selten alles auf eine Karte gesetzt.
Die Grundlage für die Entwicklung privater Kryptowährungen als Alternative zu unserem Kreditgeld war das 2008 veröffentlichte Whitpaper namens Bitcoin: Ein Peer-to-Peer-E-Cash-System. Der pseudonyme Schöpfer Satoshi Nakamoto wollte ein selbst für Krisenzeiten schnelles, effektives und unbürokratisches Transaktionssystem schaffen. Dass er schon damals die Corona-Pandemie vorhersah, wie dieser Tage behauptet wird, und er deshalb den Bitcoin erschaffen hat, darf ernsthaft bezweifelt werden.
Es ist der Bitcoin selbst, der Corona-Geschichte schreibt. Mit seinem 50-prozentigen Flash-Crash am 12. März 2020. Die Märkte für digitale Währungen verloren an diesem schwarzen Donnerstag 44 Mrd. US-$ in wenigen Stunden. Als der schlimmste Tagesabsturz der marktführenden Kryptowährung Bitcoin feststand, verkündete Whistleblower Edward Snowden völlig unerwartet: „Zum ersten Mal seit langer Zeit will ich wieder Bitcoin kaufen. In dem Absturz steckt zu viel Panik und zu wenig Sinn.“ CoinDesk, der Marktführer für Bitcoin-News und seit vier Jahren Teil des Barry Silbert Imperiums Currency Digital Group, machte in seiner Analyse die niedrige Hashrate und das geringe Handelsvolumen für den Bitcoin-Absturz unter die 4000 US-$ Grenze verantwortlich.
Mittlerweile ist die Talfahrt beendet, der Bitcoin kratzt erneut an der 9000 US-$ Marke, die zweiterfolgreichste Kryptowährung, der Ethereum, hat seine 200 US-$ Schallmauer bereits wieder durchbrochen. Trotzt der Bitcoin jeder Krise? Sein dezentraler Ansatz macht ihn vor allem von Banken unabhängig – ein wichtiger Aspekt in Krisenzeiten mit Ausgangsbeschränkungen. Hat er sich bereits als seriöse Anlageform etabliert? Als digitales Gold geht er noch nicht in die Geschichtsbücher ein, obwohl er gegenüber Edelmetallen den großen Vorteil hat, nicht physisch abgebaut, aufbereitet und transportiert werden zu müssen.
Die vielfältigen Währungsexperimente haben das Bargeld-Tabu aufgeweicht. Geld kann im 21. Jahrhundert offener bzw. flexibler benutzt und schneller gehandelt werden als je zuvor. Im Vergleich dazu erscheint das geliebte Bargeld wie ein konservatives Währungsrelikt der Vergangenheit. Wird es dem nächsten großen Digitalisierungsschub zum Opfer fallen?
Bargeld stellt in Niedrigzinszeiten ein großes Risiko für unser Geldsystem dar. Zu diesem Schluss kommt eine Studie der amerikanischen Tufts University in Medford, Oregon. Sobald Notenbanken Zinsraten unter Null festlegen, werden die Kunden das Geld aus dem System nehmen. In einer (bar)geldlosen Wirtschaft stellt sich dieses Problem erst gar nicht.
Kein bestehendes Geldsystem lässt sich leicht durch ein neues, alternativloses Währungssystem ersetzen. Vieles spricht für eine flexible, multimonetär und komplementär strukturierte Geldzukunft. „Geld wird sich in einer Vielzahl von Netzwerken neu definieren“, ist sich der Autor und Zukunftsforscher John Naisbitt, 91, sicher. „Es wird der freien Wahl und dem Wettbewerb unterworfen sein.“
Am Ende der digitalen Transformation könnte auch eine Welt ohne Banken und ohne Geld stehen, in der jeder für seine Transaktionen selbst verantwortlich ist. Nachvollziehbarer und nicht so radikal ist der Denkvorstoß des im letzten Jahr verstorbenen belgischen Finanzexperten Bernard Lietaer, ein großer Propagandist der Komplementärwährungen. Als leitender Angestellter der belgischen Zentralbank war er für die Einführung des ECU verantwortlich, dem Wegbereiter der einheitlichen europäischen Währung.
Er hat ein Drei-Stufen-Modell prognostiziert: Eine inflationssichere globale Komplementärwährung als Garant für einen stabilen Wertmaßstab des Welthandels. Zudem verschiedene B2B-Währungen, die Cashflow-Probleme und Kreditengpässe in Schach halten sollen. Und drittens eine Vielzahl kommunaler Währungen, die regionale Wirtschaftskreisläufe stärken.
„Imagine 2030“, eine vor wenigen Monaten publizierte Studie der deutschen Bank, rechnet damit, dass es in zehn Jahren weltweit lediglich 200 Millionen Krypto-Wallet Besitzer geben wird, viel zu wenige um Bargeld ersetzen zu können. Dieser skeptische Ausblick ist schwer nachzuvollziehen. Microsoft und Subway, Expedia und PayPal akzeptieren Zahlungen in Bitcoins seit mehreren Jahren. Dass „Imagine 2030“ Kryptowährungen überhaupt ein Kapitel widmet,
geht auf die Ankündigung Chinas zurück, die staatliche Kryptowährung DC/EP
(Digital currency/Elektronic payment) ins Leben zu rufen. Ein ehrgeiziges Gegenkonzept zu den bestehenden Blockchain-Währungen, das primär darauf ausgelegt ist, das nationale Währungssystem besser kontrollieren zu können. Die notwendigen Wallets stellt den Chinesen ihre Staatsführung zur Verfügung.
In vier chinesischen Städten werden bereits Apps getestet, über die in E-Yuan bezahlt werden kann. Staatsbeamte in der südchinesischen Stadt Suzhou sollen ihr Mai-Gehalt teilweise in digitaler Währung ausbezahlt bekommen, berichtet das Wall Street Journal. Der Ansturm auf den E-Yen ist vorprogrammiert. Chinesen nützen Alipay von Alibaba oder WeChatPay des Technologiegiganten Tencent täglich. Alles wird über Smartphone-Apps beglichen, vom Tee bis zur Fernreise. Jede einzelne Pay-Plattform in China hat bereits über eine Milliarde User. Die kryptische Währungszukunft hat längst begonnen.
Erstmals publiziert: Forbes 5-20
Autor: Raoul Sylvester Kirschbichler