Covid-19 hat weltweite Wertschöpfungsketten unterbrochen und uns damit deren Fragilität und weltweite Abhängigkeiten vor Augen geführt – Inwieweit wird die Pandemie die globalen Wertschöpfungsketten nachträglich verändern?
Als einzigartiger Verkaufsschlager in Corona-Zeiten gerne belächelt, wurde es vielerorts gehamstert, vorübergehend sogar zu Wucherpreisen auf Ebay angeboten: Klopapier. Einen klassischen Engpass, der die Panikkäufe rechtfertigte, gab es nie. „Die Versorgung war immer gesichert. Über 1,5 Millionen Rollen Klopapier produziert Hakle pro Tag, das Lager wird ständig aufgefüllt und die Lieferkette funktioniert nach wie vor“, erklärte Volker Jung, Chef des deutschen Toilettenpapierherstellers Hakle am Höhepunkt der Krise gegenüber Die Welt. Ganz anders sah es bei LAG in Wien aus. Das Fachgeschäft für ergonomisches Sitzen und Schlafen musste seine Kunden wochenlang vertrösten, weil die Matratzen in Italien hergestellt werden.
Unternehmen, die sich auf eine lokale Produktion stützen, können in Krisenzeiten ihre Produktionsabläufe besser anpassen und, falls notwendig, gänzlich umstellen. Globale Wertschöpfungsketten – das hat die Corona-Pandemie drastisch vor Augen geführt – sind fragil(er) und sind von großen Abhängigkeiten geprägt. Von Toyota bis Chrysler, von Boeing bis Airbus – die größten Weltkonzerne stützen sich auf die aktuelle Form der internationalen Arbeitsteilung, gekennzeichnet von einer Just-in-time-Produktion mitsamt einer globalen Outsourcing-Strategie, die allzu oft nur mit einem (Single Sourcing) Zulieferer auskommt. Der Nachteil liegt auf der Hand: Je komplexer die Lieferkette, desto höher das Ausfallrisiko.
In der Autoindustrie musste die Herstellung in Covid-19-Zeiten unterbrochen werden – es fehlten Teile, die in Asien hergestellt werden. Die Branchenexperten des Beratungsunternehmens EY gehen in einer aktuellen Analyse davon aus, dass die Mehrzahl der großen Hersteller im Juli rote Zahlen präsentieren muss. Summa summarum verbuchten die größten Hersteller im operativen Geschäft nur noch rund 7,5 Milliarden Euro Gewinn, wie EY in seiner regelmäßigen Branchenanalyse berechnet hat. Das ist ein Einbruch um mehr als die Hälfte im Vergleich zum ersten Quartal 2019 und der niedrigste Stand seit 2009. Die Verkaufszahlen gingen um 21 Prozent zurück, der Umsatz immerhin “nur” um neun Prozent.
Größere Lagerbestände können zwar das Risiko verringern, birgt jedoch auch ein zentraler Nachteil: „Das Ausweichen auf heimische bzw. europäische Zulieferer wird die Kosten für Vorleistungen in die Höhe treiben. Wenn Konkurrenzunternehmen weiterhin auf die weltweit günstigsten Vorleistungen zurückgreifen, also geringe Produktionskosten haben, droht dem eigenen Unternehmen der Verlust der Wettbewerbsfähigkeit“, sagt Thiess Petersen, Senior Advisor der Bertelsmann Stiftung, diesbezüglich gegenüber Forbes. „Ein geringeres Ausmaß an Just-in- time-Produktion führt automatisch zu höheren Lagerhaltungskosten.“
Einen Luxus, den sich etwa das schwäbische Unternehmen Stihl leistet, das seine Produkte mitsamt dem Verkaufsschlager „Motorsägen“ über 41 Vertriebs- und Marketinggesellschaften weltweit in 160 Länder verkauft. Es stützt sich auf ein gut gefülltes Lager. „Produziert wird in einem weltweiten Fertigungsverbund in insgesamt sieben Ländern. Unsere Wertschöpfungstiefe in der Fertigung liegt bei rund 50% – das vereinfacht eine Priorisierung zwischen unseren Standorten und macht uns sehr flexibel“, schreibt der Unternehmenssprecher Stefan Caspari in einer E-Mail an Forbes. Stihl konnte seinen Betrieb zu Corona-Zeiten an allen Produktionsstätten weitgehend aufrechterhalten. Ohne Kurzarbeit. Einzelrisiken aus Lieferquellen wurden bereits vor Corona eliminiert. „Somit sehe ich für Stihl nur punktuell Anlass zur Lieferketten-Optimierung. Die Globalisierung macht derzeit Pause“, ist sich Caspari sicher.
Als Corona gnadenlos in der Lombardei wütete und in atemberaubendem Tempo unser Leben europaweit auf den Kopf stellte, begann ein beispielloser Wettlauf um Schutzmasken, Handschuhe und Desinfektionsmittel. „Die etablierten Hersteller haben die Produktion so weit wie möglich hochgefahren“, meint Manfred Beeres vom Bundesverband Medizintechnologie (BVMed) gegenüber tagesschau.de und verweist auf die US-Firma 3M, die irische Firma Medtronic und den Lübecker Produzenten Dräger, die allesamt in Deutschland Standorte haben. Dräger produziert nach eigener Angabe seine Masken in Schweden und Südafrika und war am europäischen Höhepunkt der Pandemie voll ausgelastet. “Selbst wenn wir deutsche Hersteller haben, findet die Produktion selbst meist in Asien statt“, ergänzt Marcus Kuhlmann, der Sprecher des Medizintechnik-Branchenverbands Spectari gegenüber tagesschau.de.
Covid-19 ließ Europas hochgelobte Solidarität schlagartig vergessen: Lieferungen von Schutzbekleidung wurden an der deutsch-österreichischen Grenze blockiert. Das von Deutschland am 4. März verhängte Ausfuhrverbot für medizinische Hilfsmittel sorgt für Nachschubprobleme Probleme. Eine LKW-Ladung voller Atemschutzmasken wurde an der Einreise nach Oberösterreich tagelang gehindert.
Beim Handschuhhersteller Sempermed, dem medizinischen Sektor der Semperit AG Holding, der in Wimpassing/Niederösterreich produziert verdreifachte sich die Nachfrage. „Allerdings ist derzeit nicht abzuschätzen“, gibt die Unternehmenssprecherin Monika Riedel zu bedenken, „wie lange dieses Interesse anhält und ob die Akzeptanz eines höheren Preises im Vergleich zu asiatischen Alternativen dann noch gegeben sein wird.“
Mit einem Jahresumsatz von 293,3 Millionen Euro (2019) ist Sempermed der umsatzstärkste Sektor der Semperit Gruppe. Trotzdem – das haben Vorstand und Aufsichtsrat Anfang 2020 beschlossen – wird Semperit aus dem Medizingeschäft aussteigen, weil das Segment zu hohe Inventionen voraussetzt, um konkurrenzfähig zu bleiben. Das haben Vorstand und Aufsichtsrat Anfang 2020 beschlossen.
Von den weltweit 6.900 MitarbeiterInnen beschäftigt die Semperit Gruppe 900 in Österreich und rund 3.600 in Asien. Untersuchungshandschuhe werden in Malaysia hergestellt. Die Handschuhproduktion ist – ähnlich wie die Elektroindustrie von Rohstoffen abhängig, die es in Europa kaum gibt. „Die Produktion unserer Untersuchungshandschuhe an unserem malaysischen Standort war während der Corona- Krise kein Nachteil. Im Gegenteil: Wir wurden gebeten, die Republik Österreich mit der Lieferung von medizinischen Schutzhandschuhen zu unterstützen und haben dies binnen kürzester Zeit erfolgreich bewerkstelligt“, erklärt Riedel gegenüber Forbes. Um künftig besser gewappnet zu sein und Engpässe vermeiden zu können, setzt sich Semperit jedoch für ein österreichisches „Pandemielager“ ein.
Ein Vorschlag, den Prof. Harald Oberhofer, stellvertretender Leiter des Instituts für Internationale Wirtschaft in Wien, „im Sinne der Vorsorgesicherheit“ unterstützt. In einem Gespräch mit Forbes geht er einen Schritt weiter und hofft „auf eine Diversifikation, damit selbst regionale Abhängigkeiten reduziert werden. Es wäre ähnlich problematisch gewesen, wenn beispielsweise ein Pharmakonzern sein Penicillin in der Lombardei herstellt.“ Es ist und bleibt gesellschaftlich unverantwortlich und politisch riskant, wenn 90 Prozent des weltweiten Penicillins und auch 90% aller Wirkstoffe für Generika in China produziert werden. Denn bereits vor Covid-19 kam es zu Lieferproblemen bei wichtigen Medikamenten: das Blutdruckmittel Valsartan und das Antibiotikum Ospen waren kaum erhältlich.
Gilt es also, bestimmte globale Wertschöpfungsketten zu verkürzen? Und wenn ja, welche? Laut Petersen sei es eine gesellschaftspolitische Entscheidung, welche Produkte als so essentiell eingestuft werden. Die Pharmaindustrie wird weiterhin die Gewinnoptimierung im Auge haben. „Deshalb“ – in diesem Punkt sind sich Petersen und Oberhofer einig – „müssen Anreize geschaffen werden, um ausgelagerte Produktionsstätten auf europäischen/heimischen Boden zurückzuholen. Beispielsweise durch Subventionen oder durch Abnahmegarantien.“
Wer zur Rückverlagerung von Produktionsschritten aus Niedriglohnländern zudem verstärkt auf digitale Technologien setzen kann, hat bessere Voraussetzungen. Allerdings: Länder mit langen und billigen Werkbänken verlieren ihren größten Wettbewerbsvorteil: die niedrigen Löhne. Grundsätzlich geht Petersen davon aus, „dass das erreichte Ausmaß der internationalen Arbeitsteilung ein wenig zurückgefahren wird, um so die Abhängigkeit von essentiellen Vorleistungen und Endprodukten zu verringern.“ Ähnlich wie Oberhofer, der von „vereinzelten Verschiebungen“ spricht, vor allem aber „eine Erhöhung der Lagerkapazitäten“ prognostiziert. Gefährlicher als eine zweite Covid-19-Welle wäre ein überbordender, vor allem protektionistischer Wirtschaftsnationalismus, der in einer De-Globalisierung mit schwerwiegenden Konsequenzen für Einkommen und Beschäftigung in allen Ländern endet.
Erstmals publiziert: Forbes No. 6-2020
Autor: Raoul Sylvester Kirschbichler