Wachstum oder Schuldenabbau? Europa kann nur noch wachsen, wenn es sich noch mehr verschuldet. Doch diese Tatsache wird uns verheimlicht.
Der Optimismus, der der wirtschaftlichen Entwicklung in Europa weit vorauseilt, ist nicht mehr als eine vage Hoffnung. Sie soll helfen, die Nachwehen der Krise leichter zu vergessen. Doch Europas Wirtschaft taumelt immer noch, wie ein angezählter Boxer, der sich zwar noch einmal aufgerafft hat, aber nur sehr schwer auf seinen Beinen halten kann, jeden Moment wieder zu Boden gehen kann und dann erneut angezählt wird.
Während die Euro- und Sparfanatiker bereits die Sektgläser füllen, brodelt die Finanzkrise unter der Oberfläche weiter. Zum Feiern ist es zu früh. Die Sorgenkinder Spanien und Portugal konnten sich nur mithilfe der Europäischen Zentralbank am Finanzmarkt erneut refinanzieren. Frankreich, die zweitgrößte Wirtschaftsmacht Europas, steckt tiefer in der Krise als wir uns alle eingestehen möchten, und bleibt Europas größter Risikofaktor.
Die Leitzinssenkung auf 0,15 Prozent macht deutlich, dass sich Europas Krisenmanagement noch lange nicht zurücklehnen kann. Die Europäische Zentralbank pumpt weiter Geld in das kränkelnde Finanzsystem, um die Kreditvergabe im Süden Europas anzutreiben. Doch das billige Geld wird von den Banken primär für den Ankauf höher verzinster Staatsanleihen verwendet.
Seitdem die Europäische Zentralbank ankündigte, Staaten im Ernstfall zur Seite zu stehen und unbegrenzt Staatsanleihen zu kaufen, also die Notenpresse anzuwerfen, haben sich bei vielen Ländern die Zinsen vom Schuldenstand entkoppelt: Die Schulden stiegen, aber die Zinsen fielen.
Obwohl vieles dafür spricht, gerade jetzt zu investieren, sind Europas Unternehmer immer noch vorsichtig. Skepsis und Angst bremsen den Optimismus. Viele kämpfen ums nackte Überleben. In den meisten Ländern Westeuropas ist die Zahl der Insolvenzen 2013 dramatisch angestiegen: In Italien gingen um 16 Prozent mehr Unternehmen pleite, in Spanien waren es um 15 Prozent mehr als noch 2012. Insgesamt entfällt etwa ein Fünftel aller Insolvenzen auf das Baugewerbe, rund ein Drittel auf Handel und Gastgewerbe.
Volkswirtschaften, die die Fesseln der Rezession abschütteln konnten, verzeichnen seither nur ein sehr schwaches Wirtschaftswachstum. Bei Weitem nicht genug um die eine Trendumkehr am Arbeitsmarkt auszulösen. Jeder vierte Spanier und zumindest jeder zweite griechische Jugendliche hat immer noch keinen Job.
Europaweit klammern wir uns an die wenigen guten Prognosen, doch sie sind vage und manchmal sogar falsch. Der Musterknabe Irland, die viel gelobten „echten Helden Europas“, die viel ertragen mussten, um wieder auf eigenen Beinen stehen zu können, haben uns vor Augen geführt, dass keine Volkswirtschaft, die sich auf Rehabilitationskurs befindet, vor massiven Rückschlägen gefeit ist: Irlands Wirtschaft ist in den letzten Monaten des vergangenen Jahres erneut eingebrochen.
Obwohl Analysten mit einem schwachen Wachstum von 0,4 Prozent rechneten, schrumpfte die irische Volkswirtschaft im letzten Quartal 2013 um 2,3 Prozent. Ausschlaggebend dafür waren mehrere Faktoren: Nicht nur ist der Konsum um 0,6 Prozent zurückgegangen, gleichzeitig stiegen die Importe (um 5,8 Prozent) und waren somit fast drei Mal höher als die Exporte (2,1 Prozent). Wegen des schwachen vierten Quartals bleibt für das Jahr 2013 insgesamt ein Rückgang der Wirtschaftskraft um 0,3 Prozent.
Die Neuverschuldung lag immer noch über 6 Prozent, die Staatsschulden bei fast 130 Prozent der Wirtschaftsleistung. Zählt man Privat-, Unternehmens- und Staatsschulden zusammen, lasten auf jedem Iren sogar Schulden, die fast fünfmal so hoch sind wie die jährliche Wirtschaftsleistung. In Irland wurden im Laufe der Finanzkrise Bankschulden in Höhe von 40 Prozent des BIP auf die Steuerzahler übertragen, die diese in den nächsten Jahren abstottern müssen. Das wird sich noch lange rächen. Die massiven Sparmaßnahmen der letzten fünf Jahre von rund 31 Milliarden Euro, fast ein Fünftel der aktuellen Wirtschaftsleistung, und die umfangreiche Auswanderungswelle setzten der irischen Wirtschaft stark zu.
Zweifelsfrei hat Irland, vor allem aber die irische Bevölkerung, sehr viel geopfert, um seiner Volkswirtschaft wieder eine Perspektive zu geben. Mit den Rettungsgeldern wurden ausschließlich die Banken gerettet. Den Menschen und der Realwirtschaft wurde und wird immer mehr abverlangt.
Auch 2014 wird der beinharte Sparkurs gnadenlos fortgesetzt: Die angeblich letzte Runde von Sparmaßnahmen von einem Gesamtvolumen von 2,5 Milliarden Euro trifft in erster Linie Jung und Alt besonders hart. So wird das Arbeitslosengeld für Jugendliche massiv gekürzt. Irlands Arbeitslosenquote lag im April bei 11,9 Prozent, also nur knapp über dem Durchschnitt der Euro-Zone von 11,7 Prozent. Laut EU-Observer sollte die irische Wirtschaft in den Jahren 2014 und 2015 um 1,7 bis 2,2 Prozent wachsen – vermutlich bleibt aber der Wunsch Vater dieser Prognose. Für 2014 hat selbst die Europäische Zentralbank die Wachstumsprognose (1,2 Prozent) für Europa auf 1,0 Prozent für gesenkt.
Wenn wir die Gesamtverschuldung der Volkswirtschaften zusammenzählen, wird uns die wirtschaftliche Realität abseits von Prognosen vor Augen geführt. Addieren wir Privat-, Unternehmens- und Staatsschulden, dann weist Irland eine Gesamtverschuldung von 449 Prozent des BIP auf. Bei einer durchschnittlichen Verzinsung von 5 Prozent müssen die Iren 20,5 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung alleine für die Zinszahlungen aufwenden, ohne dass Brüssels Musterschüler dabei den Schuldenberg auch nur um einen Cent verkleinert zu hat. (Zum Vergleich: Portugals Gesamtverschuldung beträgt 388% des BIP. Das Land muss demnach beim selben Zinssatz etwa 19,4 Prozent seiner jährlichen Wirtschaftsleistung nur für die Zinsen aufwenden).
Die Schuldenkrise ist noch sehr lange nicht überstanden. Durch die steigende Zahl von Insolvenzen sind viele Kredite ausfallsgefährdet. Besonders gefährdet bleiben die Länder Südeuropas, dort könnte eine Kreditausfallsquote von 15 Prozent das Bankensystem erneut ins Wanken bringen. Das trifft neben Portugal und Spanien auch Irland und die Niederlande, die derzeit in einer tiefen Bilanzrezession stecken.
Dass die Überschuldung und die Zahlungsausfälle noch zu keinem Zusammenbruch des Finanzsystems geführt haben, verdanken wir dem niedrigen Zinssatz. Dabei dürfen wir aber auf gar keinen Fall übersehen, dass Europas Wirtschaft ohne Ausweitung der Kredite gar nicht mehr wachsen kann. Jede so positive Wachstumsprognose muss auch unter diesem Aspekt betrachtet werden.