Das TTIP-Abkommen könnte das Bildungswesen aushöhlen. Wird gute Bildung zum kostspieligen Luxusgut? Sollen wir uns an Finnland bzw. an den PISA-Ergebnissen orientieren?
Auf dem Papier ist das vorrangige Ziel des Transatlantischen Freihandelsabkommens (TTIP) klar definiert: Es geht Europa und den USA um den Abbau von „tarifären und nichttarifären Handelshemmnissen“. So soll das Wirtschaftswachstum unterstützt und die Kosten für Unternehmen in der Europäischen Union gesenkt werden. Über die genauen wirtschaftlichen Auswirkungen und, ob Arbeitnehmer letztendlich auch vom TTIP profitieren werden – genau darüber gibt es unzählige verschiedene Meinungen und Studien. Gleichzeitig wächst die Angst, dass Europa seine hohen Qualitätsstandards langsam aufgibt und, dass regionale Besonderheiten einer europäischen Einheitskultur geopfert werden. Und diese Befürchtungen gehen weit über die europäischen Umwelt- und Lebensmittelstandards, weit über die Debatte um amerikanische Chlorhühner hinaus.
Es geht um Bildung: Denn sobald der Marktzugang barrierefrei ist, könnten die Möglichkeiten der EU-Mitgliedsstaaten zur Sicherung der Qualität privater und gewinnorientierter Schulen eingeschränkt werden. Wer den Gedanken unaufhaltsam weiterspinnt, der könnte zu dem Schluss kommen, dass die Lehrer irgendwann durch eine App ersetzt werden.
Das ist zweifelsfrei übertrieben. Aber die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft bedroht auch den Bildungsbereich, weil der gesamte öffentliche Dienst von den Verhandlungen über das Freihandelsabkommen eingeschlossen ist. Der (noch geltende) EU-Grundsatz, dass der Bildungsbereich in Verantwortung der Mitgliedsstaaten liegt, könnte schrittweise ausgehöhlt werden. Wer nicht möchte, dass das öffentliche Bildungsbudget irgendwann zugunsten privater Finanzierungen gekürzt wird (vielleicht auch deshalb, weil die einzelnen Staaten ihre Ausgaben überhaupt nicht mehren den Griff bekommen), der muss sich dafür einsetzen, dass die Bildungsdienstleistungen aus der Transatlantischen Handelspartnerschaft ausgeklammert werden. Oder er setzt auf den freien, vom Staat unkontrollierten Wettbewerb, der, so wird unbegründeter Weise argumentiert, automatisch zu einem Bildungs-Qualitätsverfall führen soll. Es würde vermutlich einer Bildungsrevolution gleichkommen, wenn Bildungskonzepte völlig losgelöst von staatlicher Oberaufsicht umgesetzt werden können. Andererseits: Die gegenwärtige unendliche Debatte ums richtige Schul- und Bildungskonzept wird vor allem in Österreich weder lösungsorientiert, noch wirklich überparteilich, schon gar nicht pragmatisch geführt. Das verleiht der schleichenden Privatisierung zusätzlichen Rückenwind.
Privatschulen können sich des Ansturms kaum erwehren. Ein Trend, der sich auch im Uni-Bereich fortsetzt: Immer mehr Studenten versuchen, zumindest für ein Semester, an einer teuren Auslandsuniversität Erfahrung zu sammeln. Auch für gezielte bzw. gute Weiterbildung geben die Österreicher mehr Geld aus als andere Europäer. Kritiker befürchten eine „Amerikanisierung“ – dass die Kluft zwischen höchstem und niedrigstem Bildungsstand immer größer wird. An dieser Stelle muss auch die Frage erlaubt sein: Wer hebt die Qualität im öffentlichen Bildungsbereich, um uns vor steigenden privaten Bildungsausgaben zu schützen? Dass Bildung nur dann gut sein kann, wenn sie privat (organisiert) ist, ist natürlich nicht richtig. Ob ein freier, vom Staat unkontrollierter Bildungswettbewerb automatisch zu einem Qualitätsverfall führt, ist aber auch schwer vorstellbar.
Die Ergebnisse der PISA-Tests verschärfen die öffentliche Bildungsdebatte immer und immer wieder. Nicht nur in Österreich. Was gänzlich übersehen wird, dass Bewertungskriterien zur Anwendung kommen, die sich auf die Bildungsprioritäten konkreter Bildungssysteme beziehen. Laut den Schlussfolgerungen der PISA-Untersuchung beruht der große Aufstieg der asiatischen Länder auf dem Bildungssektor auf der engen Kooperation zwischen Familie, Schülern und Lehrkörper. Gleichzeitig wird asiatischen Lehrern wesentlich mehr Respekt entgegen gebracht. Nicht nur von Eltern, auch von Bürgermeistern. Singapur rangiert laut PISA vor Südkorea und Japan.
Europäischer Spitzenreiter ist Finnland. Das erfolgreiche Abschneiden der finnischen Schüler bei den Pisa-Tests stützt sich auf ein völlig anderes Grundverständnis, das historisch gewachsen ist: In dem rohstoffarmen Land sind sich alle Verantwortlichen seit Jahrzehnten einig, dass die Berufschancen der Menschen in einem direkten Zusammenhang mit der „Produktion von Wissen“ stehen. Jedes Kind soll optimal gefördert werden, egal ob es sich um den Sohn eines Hilfsarbeiters oder um die Tochter des Nokia-Konzernchefs handelt. Die Finnen messen den Grad der Chancengleichheit daran, wie hoch das Leistungsniveau der Schüler ist. Selbst Sozialdemokraten haben in Finnland darauf gedrängt, die Leistungen der Schüler zu überprüfen, um so festzustellen, ob die Chancengleichheit auch tatsächlich gewährleistet ist.
Das finnische Bildungswesen orientiert sich immer nur an einem parteiübergreifendem Ziel: Chancengleichheit bei hoher Leistungsanforderung. Deswegen hat es die Finnen auch sehr schwer getroffen, dass es in ihrem Land einige Schulen gibt, deren PISA-Ergebnisse unterhalb des OECD-Schnitts liegen. Es handelte sich um Regionen, die unter sozialer Segregation leiden, in denen es viel Arbeitslosigkeit und Migranten gibt.
Wer dem Erfolgsmodell wirklich auf den Grund gehen möchte, der sollte einen finnischen Wahlkampf miterleben, sich in den Parteizentralen und Ministerien ein Bild machen und erst dann die Schulen aufsuchen. Politik beginnt nicht bei null, sie ist geprägt von der Bildungsgeschichte und den Traditionen des jeweiligen Landes. Das ist vor allem in Finnland offensichtlich und erklärt auch, weshalb es sinnlos ist, einzelne Maßnahmen von Finnland in Österreich oder Deutschland zu kopieren.
Gleichzeitig wäre es falsch, sich an den PISA-Ergebnissen zu orientieren. Der PISA-Test stützt sich auf Kriterien, denen keine breite wissenschaftliche Diskussion vorangegangenen ist. Sie wurden mittlerweile zu Maßstäben erhoben, die weder bestehende Schul- und Bildungstheorien berücksichtigen, noch mit Lehrer- oder Elternverbänden abgestimmt wurden, sich somit bis zum heutigen Tag auf keine fundierte Basis stützen, was aus wissenschaftlicher Sicht völlig unüblich ist. Ein gutes Bildungskonzept wird sich hoffentlich nie an den PISA-Ergebnissen orientieren.