Der Vierfachmord in den französischen Alpen hat einen dramatischen Wendepunkt erreicht: Wer war das eigentliche Ziel des Killers? Gibt es eine Verbindung zur französischen Atomindustrie, dann wird aus dem einzigartigen Kriminalfall ein Politthriller.
William Brett Martin, ein ehemaliges Mitglied der British Royal Air Force, näherte sich nur zögernd dem kleinen Waldparkplatz in der Nähe des französischen Dorfs Chevaline in den französischen Alpen. Plötzlich erblickte er ein Mädchen, das blutend und jammernd herumtaumelte. Das schwer verletzte Kind brach neben einem weinroten BMW-Kombi zusammen. In unmittelbarer Nähe lag ein toter Fahrradfahrer. Als Brett Martin den BMW-Motor abstellen wollte, entdeckte er drei weitere Leichen im Innenraum des Fahrzeuges. Sofort griff er zu seinem Handy, um Polizei und Rettung zu verständigen. Er wollte auch über das dunkelgrüne Allradauto berichten, das ihm mit hoher Geschwindigkeit entgegenkam. Keine Chance. Sein Handy konnte keine Verbindung herstellen.
„Es war keine leichte Entscheidung das Mädchen zurückzulassen“, erinnerte sich Brett Martin Wochen später in einem BBC-Interview. „Ich hatte Angst die Verletzungen könnten sich verschlimmern, wenn ich sie vom Boden aufhebe und ins Dorf trage.“ Die siebenjährige Zainab verlor immer wieder das Bewusstsein. Sie erlitt einen Schädelbruch und eine Schussverletzung in der Schulter. Ihr Vater, Saad al-Hilli (50), ein britischer Ingenieur, ihre 47-jährige Mutter und ihre Großmutter (74), – sie alle waren tot. Alle drei wurden im BMW-Kombi mit zwei gezielten Kopfschüssen regelrecht hingerichtet. Der Fahrradfahrer wurde sogar mit insgesamt fünf Schüssen getötet.
Nur Zainabs jüngere Schwester überlebte: Die vierjährige Zeena versteckte sich im Fußraum des Beifahrersitzes unter dem Rock ihrer ermordeten Mutter. Der Killer dürfte Zeena – so wird bis heute vermutet – übersehen haben. Letztendlich, nach mehreren Operationen, hat aber auch Zainab überlebt. Beide Mädchen sind bis zum heutigen Tag schwer traumatisiert und somit (noch) keine Hilfe für die Ermittlungen auf beiden Seiten des Ärmelkanals. Sie wurden an einen geheimen Ort in Großbritannien gebracht.
Am Tatort hat die französische Polizei insgesamt 25 Patronenhülsen sichergestellt. Alle Schüsse wurden von einer Waffe abgegeben, sie stammen aus einer Pistole Kaliber 7,65 Millimeter. Eine Automatikpistole aus der Produktion des französischen Herstellers Manufacture d’Arms de Bayonne, die auch als Dienstwaffe bei der Wehrmacht verwendet wurde. (Vom Heeresbeschaffungsamt wurden von 1940 – 1944 ca. 53.000 Pistolen für die Truppen angeschafft.) Vieles deutete zu diesem Zeitpunkt auf einen Einzeltäter hin, vermutlich sogar auf einen Profikiller.
Das Blutbad ereignete sich am 5. September. Alle Ermittlungen konzentrierten sich seit damals auf Vater Saad al-Hilli, der in den siebziger Jahren mit seinen Eltern von Bagdad nach London gezogen war. Und seit 1984 mit seiner Familie in einem Fachwerkhaus im englischen Claygate lebte. Wer könnte ein Interesse an seinem Tod haben? War es tatsächlich ein Auftragskiller? Oder mehrere? Der 50-jährige Ingenieur war unter anderem für ein Unternehmen aus der Luft- und Raumfahrtbranche tätig. Sofort wurde vermutet, dass mögliche Berufsgeheimnisse hinter seiner Ermordung stehen. Seine Frau war Zahnärztin. Unbestätigten Berichten zur Folge soll die gesamte Familie während des zweiten Irakkrieges vom britischen Geheimdienst überwacht worden sein. Aus welchem Grund? Gab es einen konkreten Verdacht, der heute – vielleicht auf Umwegen – zum Motiv des Täters führt? Oder handelt es sich „nur“ um einen missglückten Raubüberfall und die Geheimdienstüberwachung war ganz normale Routine? Der britische Geheimdienst MI5 schweigt.
Die Liste der unbeantworteten Fragen war bald genauso lang wie die der Vermutungen und Spekulationen. Einhundert Fahnder arbeiteten rund um die Uhr. Nicht nur in Großbritannien und Frankreich, sondern auch in Schweden, denn die ermordete Großmutter, sie saß auf dem Rücksitz, besaß auch einen schwedischen Reisepass. Sie lebte in Stockholm. Sehr zurückgezogen. Die ganze Familie al- Hilli lebte ein sehr normales Leben, das sich auf vielen Kontinenten abspielte und eine multikulturelle Spur hinterließ, von Bagdad über London bis zum Ferienhaus in der Nähe von Bordeaux, die, sobald sie in moslemische Länder führt, heute schnell einmal Misstrauen weckt.
Der französische Radfahrer, der mit mehreren Schüssen hingerichtet, neben dem BMW gefunden wurde, galt von Anfang an als „unerwünschter Augenzeuge“. Er musste sterben, weil er zur falschen Zeit einfach am falschen Platz in den französischen Alpen war: Sylvain Mollier (45), hinterlässt zwei Söhne im Teenager-Alter aus einer früheren Ehe und ein Baby aus seiner derzeitigen Beziehung. Er hatte zu viel gesehen, deswegen mußte er sterben. Davon war man zumindest immer ausgegangen. Doch das war voreilig und unklug, – vielleicht auch so gewollt.
Mittlerweile wissen wir, dass Mollier, für das Nuklear-Unternehmen Cezus arbeitet. Cezus ist eine Tochterfirma der internationalen Areva Gruppe, die Weltmarktführer für Nukleartechnik ist. Der Konzern ist im Besitz des französischen Staates: 84 Prozent gehören dem Kommissariat für Kernenergie und alternative Energien; 8,4 Prozent direkt dem französischen Staat und 3,6 Prozent dem staatlichen französischen Finanzinstitut. Kurz nach Fukushima, als die internationale Atomenergiepolitik an einem Tiefpunkt angekommen war, wurde Areva-Chefin Anne Lauvergeon entlassen. Staatspräsident Nicolas Sarkozy persönlich hatte so entschieden. Gegen den Willen der Gewerkschaftsvertreter und gegen den Willen der französischen Abgeordneten. Sarkozys Entscheidung dürfte auf die Areva-Verluste in Finnland zurückzuführen sein. Areva sollte gemeinsam mit Siemens einen neuen Block im Kernkraftwerk Olkiluoto an der finnischen Westküste bauen. Im Frühjahr 2011 hat Siemens die Zusammenarbeit mit Areva aufgekündigt. Der Verlust für Frankreichs Staatskonzern wird auf 4 Milliarden Euro geschätzt.
Doch was hatte Sylvain Mollier damit zu tun? Er arbeite bei dem Tochterunternehmen Cezus und war dort mitverantwortlich für die Herstellung von Hüllen für Brennstäbe. Die Brennstabhülle soll den Kernbrennstoff vom Kühlmittel des Reaktors trennen und verhindern, dass die bei der Kernspaltung entstehenden Spaltprodukte in das Kühlmittel gelangen. Areva hatte eine vorgesehene Lieferung von Kernbrennstoff in den havarierten japanischen Atommeiler Fukushima wegen der dortigen Katastrophe verschoben. Eine Ladung MOX-Brennelemente sollte per Schiff an den mittlerweile weltberühmten Betreiber Tepco geschickt werden.
Welche Rolle Sylvain Mollier wirklich gespielt hat, wissen wir noch nicht. Auch nicht, ob er tatsächlich ein Doppelleben geführt hatte, wie ein französischer Ermittler unlängst vermutete. Sicher ist, dass es der Killer auf ihn abgesehen hatte. Die Urlauber-Familie al-Hilli waren die unerwünschten Augenzeugen, die deswegen auch sterben mussten. Als Vater Saad al-Hilli zum Auto eilte, um zu fliehen, blieb der BMW beim Zurücksetzen im weichen Untergrund einer Böschung stecken. Das berichteten französische Medien am letzten Sonntag.
Die unerwartete Wende hat auch zu einem Umdenken bei den Ermittlungsbehörden geführt. Seitdem feststeht, dass es der Killer primär auf Sylvain Mollier abgesehen hatte, dementiert die französische Staatsanwaltschaft viele Untersuchungsergebnisse, die bereits als sichere Erkenntnisse dargestellt wurden. Unter anderem auch die Tätertheorie:
Die große Zahl der Patronenhülsen am Tatort spricht nun laut Eric Maillaud, dem Staatsanwalt von Annecy, gegen einen Auftragskiller. „Wir schließen auch die Hypothese nicht aus, dass die Tat von einem Verrückten begangen wurde.“ Die Behauptung, der Schütze sei zu dem noch lebend am Boden liegenden Mollier zurückgekehrt, und die Behauptung, dies lasse sich aus den Einschusswinkeln ableiten, sei „reine Fiktion“, erklärte Maillaud. Auch für die These, dass al-Hilli den Wagen rückwärts in die Böschung gefahren hätte beim Versuch zu fliehen, gebe es bislang keinerlei Beleg.
Für Nachrichten-Politik ist klar, dass sich hinter den Kulissen die französische Regierung in die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft von Annecy eingeschaltet hat. Ob sie von Anfang an dafür verantwortlich war, dass zunächst einmal die Familie al-Hilli durchleuchtet wird, lässt sich derzeit nicht sagen. Nachrichten-Politik ist sicher, dass „sich die Ermittlungen“, wie auch Staatsanwalt Eric Mailaund erklärte, „noch Monate hinziehen können.“ Es bleibt aber zu befürchten, dass an der Wahrheitsfindung bewusst vorbeirecherchiert wird.
Nachrichten-Politik kommt zu dem Schluss:
Sylvain Mollier wurde von einem Profikiller getötet. Das Motiv der Auftraggeber wird immer im Dunkeln bleiben müssen. Es ist eng mit seinem beruflichen Hintergrund verknüpft. Unter diesem Aspekt sind alle künftigen sogenannten Ermittlungsergebnisse zu bewerten.
Sylvain Mollier starb im Alter von 45 Jahren.