Durch Erdoğans Politik wird ein EU-Beitritt der Türkei immer unwahrscheinlicher. Trotzdem sollte Brüssel die Verhandlungen fortsetzen.
Offiziell kann ich als Journalist in der Türkei schreiben, was ich will. Sobald ich aber wirklich schreibe, was ich über Erdogan und seine Politik denke, dann können sehr merkwürdige Dinge passieren: Mein Herausgeber könnte überraschend mit einer Steuerprüfung konfrontiert werden, mir könnten verschiedene Gerichtsverfahren drohen, wegen „terroristischer Aktivitäten“ oder, weil ich Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan angeblich beleidigt habe.
Es gibt in der Türkei keine Pressefreiheit mehr. Wer trotzdem glaubt, kritisch, staats- und regierungsfeindlich berichten zu müssen, der verliert seinen Job oder landet irgendwann im Gefängnis. Und wenn in einer türkischen Tageszeitung behauptet wird, dass die Loyalität zum Ministerpräsident auf Angst beruht, nicht auf Überzeugung, dann kann es durchaus passieren, dass Erdoğan persönlich zum Telefon greift, wie ein Telefonmitschnitt beweist, und einen Medienunternehmer mit Nachdruck „überredet“ einen seinen bester Journalisten zu feuern.
Zugegeben: Viele namhafte Journalisten wurden in den letzten Wochen freigelassen, schließlich möchte Erdogan irgendwie auch bei den Kurden politisch punkten, denn am 10. August wählt die Türkei einen neuen Präsidenten. Der neue türkische Präsident wird erstmals in der Geschichte des Landes per Direktwahl bestimmt. Selbst die 1,5 Millionen Türken in Deutschland sind aufgerufen, mitzuentscheiden. Türkische Politiker werden Wahlkampfveranstaltungen auch in der deutschen Hauptstadt Berlin abhalten. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan wird für seine Partei, die AKP, ins Rennen gehen. Es wird ein Wahlkampf im amerikanischen Stil, was bedeutet, dass Kandidaten persönliche Spenden für ihre Kampagne annehmen können.
Freedom House ist unabhängig und mit Sicherheit nicht voreingenommen gegenüber der Türkei. Diese „Non-governmental Organization“ (NGO) mit Sitz in Washington untersucht seit 1973 u.a. die Freiheit der Medien in den verschiedensten Ländern. Ziel ist es, liberale Demokratien weltweit zu fördern. Bekannt wurde Freedom House vor allem durch seine jährlich veröffentlichten Berichte – „Freedom in the World“ und „Freedom of the Press“.
Genau untersucht werden dabei rechtliche, politische und wirtschaftliche Hindernisse, mit denen Medien in den verschiedensten Ländern zu kämpfen haben. Die Weltrangliste wird nach einem Punktesystem erstellt: Je mehr Punkte, desto „unfreier“. In der aktuellsten Untersuchung stürzte der EU-Beitrittskandidat Türkei mit 62 Punkten (zuletzt 52 Punkte) von Platz 117 auf Platz 134. Der Status quo der türkischen Medien wird als „teilweise frei“ oder „nicht frei“ bezeichnet.
Rechtsstaatlichkeit, Presse- und Meinungsfreiheit sind Grundvoraussetzungen für EU-Beitrittsverhandlungen. Die offiziellen Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wurden bereits in der Nacht vom 3. auf den 4. Oktober 2005 aufgenommen. (Grundlage dafür war das Ankara-Abkommen, ein Assoziierungsabkommen zwischen EWG – Türkei vom 12. September 1963). Seit 1996 sind die Türkei und die Europäischen Union durch eine Zollunion verbunden.
Obwohl alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) den bisherigen Stadien des Beitrittsprozesses zugestimmt haben, lehnt ihn ein großer Teil der EU- und türkischen Bürger ab. In den nächsten Monaten, spätestens nach der türkischen Präsidentenwahl, wird sich die Europäische Union entscheiden müssen, ob Prinzipien und Grundsätze oder pragmatisch-politische Erwägungen den Vorrang haben. Brüssel kann jederzeit die Verhandlungen mit der Türkei aussetzen bzw. abbrechen.
Die Argumente dafür liefert Erdoğans Politik: Der brutale Umgang mit den Gezi-Park-Protesten, der unermüdliche Versuch die türkische Justiz immer mehr zu kontrollieren und die Sperrung von Twitter und YouTube. Die Türkei entfernt sich langsam von Europa, ein Land, das die demokratischen Werte mit Füßen tritt, kann nicht zur Europäischen Union gehören.
Doch was würde ein vorzeitiges Ende der sehr zähen Beitrittsverhandlungen bedeuten? Auslandsinvestitionen würden sich einbremsen und das Wirtschaftswachstum von derzeit 2,4 Prozent fällt noch weiter unter die ursprünglich prognostizierten 4,0 Prozent. Vermutlich würden auch die Arbeitslosenzahlen (derzeit 9,4 Prozent) weiter steigen. Und vergessen wir nicht: Mit einem Ende der Beitrittsverhandlungen würde Brüssel jenen in den Rücken fallen, die tag täglich gegen die autoritäre Repression protestieren. Zudem: Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit lassen sich im Rahmen von EU-Verhandlungen stärker und besser einfordern.
Das politisch-diplomatische Kalkül überlagert derzeit die wirtschaftlichen Absichten der Europäischen Union. Denn die Türkei ist einerseits ein unverzichtbarer Partner, wenn es um eine Lösung des syrischen Bürgerkriegs geht, andererseits ein verlängerter politischer Arm, der hilft, europäische Interessen im Nahen Osten und in der Schwarzmeerregion weiter verfolgen zu können. Gleichzeitig bleibt die Türkei durch ihre NATO-Mitgliedschaft ein militärischer Außenposten an der Grenze zur islamischen Welt.
Um Erdoğans Politik herum ist ein Labyrinth entstanden, das zumindest zwei Ausgänge besitzt. Einer heißt EU-Vollmitgliedschaft, ein anderer führt direkt in die islamische Welt. Welche Richtung der Ministerpräsident einschlagen möchte, weiß er vermutlich selbst noch nicht. Ein Mittelweg scheint unmöglich, den die politische Realität lässt alle Demokraten immer wieder zusammenzucken.
Es wird höchste Zeit, dass Erdoğan Farbe bekennt. Das lässt sich auch im Rahmen der Beitrittsverhandlungen einfordern. Denn unter dem Wort „Verhandeln“ versteht Brüssel, die Übernahme des gemeinschaftlichen europäischen Rechtsbestands, des acquis communautaire in das Gesetzbuch des Beitrittskandidaten und seine Übernahme in die Praxis. Demnach ist es aus derzeitiger Sicht wünschenswert, dass die Europäische Union das Verhandlungskapitel 23 (Justiz und Grundrechte) und das Verhandlungskapitel 24 (Recht, Freiheit und Sicherheit) so schnell wie möglich auf die Tagesordnung setzt. Nur so kann die Europäische Union direkten Einfluss nehmen: Rechtsstaatlichkeit und Demokratie könnten auf diesem Weg gestärkt werden.
Die ehrgeizigsten Strategien und Konzepte können den Eindruck nicht ganz wegwischen, dass die Türkei Europa langsam den Rücken zudreht. Schließlich verlangt eine Fortsetzung des Friedensprojekts „Europäische Union“ auch ein Bekenntnis zu Freiheit und Toleranz.