12 Nov 2014, Shanghai, China --- A man wearing a face mask visits the promenade on the Bund in heavy smog in Shanghai, China, 12 November 2014. The heavy pollution shrouded Shanghai Wednesday (12 November 2014) morning as the air quality index peaked at 261 by 9am, the Shanghai Environmental Monitoring Center said. The main pollutant was PM2.5 particles, the density of which surpassed 200 micrograms per cubic meter in the morning, said the center. People with weak respiratory systems are advised to stay indoors. --- Image by © Imaginechina/Corbis

China: Wachstum um jeden Preis

Immer öfter demonstrieren Chinesen gegen den diktierten Wirtschaftsboom. Den Großstädten droht der Ökokollaps. Die KP-Führung ist machtlos. Zerbricht das kommunistische Regime an seiner eigenen Wirtschaftspolitik?

Aus den Schornsteinen steigen gelber Rauch und feiner Staub auf. Die Luft ist mit Flugasche oder Schwefeldioxid (SO2) belastet. Der Himmel ist grau. Aus den grünen Wiesen wurden industrielle Mülldeponien. Die Abwässer des gesamten Industriegebietes fließen meistens ungefiltert in den Yangtze River. Er ist mit über 6000 Kilometer der längste Fluss Asiens. In Zhejiang, einer Provinz im Südosten Chinas, wird er nur noch „Gelber Fluss“ genannt. Die chemischen Abwasser der Provinz haben ihn verfärbt. Im Stadtbezirk Zenhai möchte der Erdölgigant Sinopec nun eine neue Erdölraffinerie im Wert von sieben Milliarden Euro errichten. Doch die Grenzen der menschlichen Belastbarkeit in diesem Teil Chinas, wie in vielen anderen, sind schon längst überschritten.

Massendemonstrationen sind die logische Folge. Die Menschen protestieren mit allen Mitteln gegen den Bau dieser Mega-Raffinerie. Als die Sicherheitskräfte den Befehl erhielten, „entsprechend den Gesetzen für Ordnung zu sorgen“, musste das Schlimmste befürchtet werden. Internet-Berichten zu Folge wurde Tränengas eingesetzt, doch die Demonstranten kehrten zurück und formierten sich erneut vor dem Sitz der Bezirksverwaltung. Eine Polizeistation wurde mit Steinen beworfen. Auf beiden Seiten gab es Verletzte. Schließlich wurde am letzten Samstag eine Krisensitzung der kommunistischen Partei einberufen. Auf der Internetseite der Stadtverwaltung war 24 Stunden später zu lesen:

 „Das Fabrikprojekt ist formell noch nicht genehmigt worden. Deswegen wird es auch nicht fortgesetzt.“

Gleichzeitig wird versichert, dass man auch die Bedenken der Projektgegner anhören möchte. Sie kämpfen in erster Linie für ihre eigene Gesundheit und für die Zukunft ihrer Kinder. Immer öfter wehren sich die Chinesen gegen die kompromisslose Wirtschaftspolitik der KP-Führung. Im Juli kam es in Shifang zu gewaltsamen Protesten, bis der Bau einer Metallfabrik tatsächlich gestoppt wurde. In Dalian protestierten die Bürger im letzten Jahr gegen die Errichtung einer Chemiefabrik. Der Volkszorn wächst. Und zwar im ganzen Land. Er richtet sich gegen die beispiellose Umweltzerstörung. Letztendlich ist es aber ein Kampf ums Überleben.

Eine Studie der Weltbank zufolge, die gemeinsam mit dem chinesischen Gesundheitsministerium und der staatlichen Umweltschutzagentur erstellt wurde, sterben jährlich 750.000 Chinesen an den Folgen der Umweltverschmutzung. In den Städten sind Krebserkrankungen mittlerweile die häufigste Todesursache. Dabei versucht die Führung der kommunistischen Partei, die Veröffentlichung von Zahlen und Details über die Umweltverschmutzung und ihre Folgen, mit allen Mitteln zu verhindern: Schon vor fünf Jahren wurde die Weltbank gezwungen, mehrere Kapitel aus ihrer Studie zu streichen. Sie durften nicht publiziert werden, „weil sie soziale Unruhen auslösen könnten“, erklärte ein Co-Autor dieser Studie. Es ging um jene Seiten, die ganz genau darlegten, wie viele Menschen wo in China und aufgrund welcher Umwelteinflüsse/Umweltschäden pro Jahr sterben. Die Zahl „750.000“ mitsamt dem detaillierten Kartenmaterial durften nicht veröffentlicht werden.

Schon damals war klar, dass das wahre Ausmaß der gesamten Umweltkatastrophe nicht wirklich erfasst werden kann. Auch nicht von der Weltbank. Die Umweltschäden in China sprengen die schlimmsten Befürchtungen und haben längst ein unvorstellbares Ausmaß angenommen: Die Zahl der Krebskranken in der stark belasteten Region Huaihe übersteigt beispielsweise die offiziellen Angaben der WHO um das Zigtausendfache.

„Früher bezeichnete man ein Dorf, das an der Quelle der Verschmutzung lag als ´Krebsdorf´. Aber jetzt, wo gibt es denn kein Krebsdorf? Jetzt ist nicht mehr die Rede von Krebsdörfern, sondern nur noch von einem Krebsfluss! Entlang des gesamten Yangtze River leben Krebskranke,“ erklärt Zheng Yi, einer der wenigen Umweltexperten, der auch wirklich einen Überblick über die Umweltverschmutzung in China hat. Er kommt zu dem Schluss, dass nicht nur 16 von 26 Weltstädten mit der schlimmsten Umweltverschmutzung in China liegen, sondern alle 26.“

Auf der ganzen Welt sind die Schadensverursacher im Unrecht. Aber in China ist das anders. Kein Betreiber eines Industriebetriebes, der die Umwelt zerstört und die Menschen gefährdet wird je zur Rechenschaft gezogen. Sie werden von der politischen Führung und indirekt auch von der Gerichtsbarkeit geschützt. Seit Jahrzehnten. Ein unabhängiges Rechtssystem, das auch dem Menschen und seiner Gesundheit verpflichtet ist, gibt es nicht. Umweltschutzbestimmungen können leicht umgangen werden, weil fast alle Behörden bestechlich sind. Hier ist ein Krebsgeschwür der anderen Art entstanden. Teilweise gehören die einzelnen Industrien und Fabriken den Kadern selbst.

Gefiltert wird das Ausmaß der gesamten Katastrophe von den staatlichen Medien. Die sogenannten „unglücklichen“ Nachrichten erreichen die Menschen sehr selten. Mittlerweile sind aber die persönlichen Erfahrungen Hunderttausender Menschen ausschlaggebend, nicht die Zeitungs- oder Fernsehberichte. Die Sorge um die eigene Gesundheit und der immer lauter werdende Ruf nach einer umweltbewussteren Wirtschaftspolitik besitzen eine ungeahnte politische Sprengkraft. Die Folgen der Umweltzerstörung und Umweltverschmutzung betreffen mittlerweile so viele Familien, dass es bald nur noch eine Frage der Zeit ist, wann sich die Massen erheben. Die KP-Führung in Peking steht dieser Entwicklung machtlos gegenüber. Auch deshalb, weil sie sich über Jahrzehnte sicher war, dass sozialer Friede im ganzen Land durch Arbeitsplätze und somit primär durch Wirtschaftswachstum garantiert wird. Jährlich strömen zwischen fünf und fünfzehn Millionen Chinesen auf den Arbeitsmarkt. Damit ein Großteil auch tatsächlich Arbeit findet, ist ein Wirtschaftswachstum von zumindest 7 bis 8 Prozent erforderlich. Daran hat sich die Führung in Peking auch immer versucht zu orientieren.

Wachstum um jeden Preis – koste es was es wolle, so könnte die Vorgabe der kommunistischen Partei gelautet haben, wenn man sich die beispiellose Expansionspolitik auf Kosten der Umwelt und auf Kosten der Menschen in den Städten, vor allem in Shanghai ansieht. Der wirtschaftliche Gewaltmarsch treibt Chinas Großstädte ungebremst in die ökologische Katastrophe. Ein unerträglicher Giftcocktail hat sich in den Millionenmetropolen festgesetzt. Die Zahl der Atemwegserkrankungen steigt jedes Jahr. Logischerweise wächst gleichzeitig das Umweltbewusstsein der Chinesen. Es wird zu einer explosiven Kraft, der Chinas Regierung immer öfter machtlos gegenübersteht. Für eine schnelle Kurskorrektur, die dringend nötig wäre, scheint es bereits zu spät.

Der wirtschaftliche Schaden durch Umweltzerstörung und Todesfälle wird auf 200 bis 400 Milliarden Dollar pro Jahr oder auf mindestens zehn Prozent des Bruttoinlandsproduktes geschätzt.

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